Wandern auf der Grenze

Einst ein Rechtsmittel, heute eine Wanderung zu den Traditionshöfen

Lage.
„An einem Sommertag, heut sind es grad zweihundertfünfzehn Jahr, es lief die Schnat am Damme drüben damals bei den Föhren …“ Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) wusste in ihrer Ballade „Die Krähen“ noch Bescheid um den richtigen Wortgebrauch von „Schnat“: Schnat ist eine alte Bezeichnung für Grenze. Ein Schnatgang ist ein im Mittelalter entstandener Rechtsbrauch, um Grundstücks- beziehungsweise Flurgrenzen festzulegen und um den Zustand der Grenzbefestigungen (Hecken, Gräben, Dämme, Dornbüsche usw.) zu kontrollieren. Die während eines Schnatgangs besprochenen beziehungsweise verhandelten und protokollierten Vorgänge waren Rechtsakte auf lokaler Ebene. Schnatgänge waren in früheren Zeiten Grenzbegehungen vor einem ernsthaften Hintergrund und keine Spaziergänge von Menschen, die miteinander „schnattern“ (sich unterhalten).
Im 19. Jahrhundert wurden die Land- und Flurkarten immer exakter. Damit erübrigte es sich, die Grenzen mittels Schnatgang festlegen zu müssen. Aber die Tradition der Schnatgänge hat sich in Westfalen und Lippe in manchen Orten bis auf den heutigen Tag erhalten. Die Schützengilde der Stadt Lage pflegte diese Tradition als gesellige Veranstaltung bis in die 1930er Jahre hinein und nahm sie Anfang der 1950er Jahre wieder auf.
In der ersten gedruckten Satzung der Gilde vom August 1887 steht auf den Seiten 6 und 7 im §12: „Alljährlich wird am Christi-Himmelfahrtstage eine Sitzung des gesamten Offizierscorps und des Magistrates abgehalten, in welcher außer der Rechnungsablage über Schützenangelegenheiten und insbesondere darüber berathen wird, ob im gegenwärtigen Jahre ein Schützenfest gefeiert werden soll. Wird die Abhaltung eines Schützenfestes beschlossen, so soll dieser Beschluß durch Trommelschlag der Bürgerschaft bekannt gemacht werden. Wird in dem Jahr ein Schützenfest nicht gefeiert, so findet am Tage nach Pfingsten ein Grenzbezug der Offiziere statt, wozu die Bürgerschaft einzuladen ist.“
Damit schrieben die Statuten von 1887 eine Tradition fort, die für die gemeinsame Geschichte und Entwicklung von Lage und den Schützen einen hohen Stellenwert hatte. Dies wird an folgenden Ereignissen deutlich.

Recht und Lebensgrundlage
So wird berichtet, dass in den Jahren 1692, 1698 und 1703 die „gantze gemin die Schnat betreten“ hat. Der Anlass dafür waren Streitigkeiten mit den Nachbarn aus Hagen und Waddenhausen und mit den Besitzern der Einzelhöfe: Bökhaus, Avenhaus und Sültemeier. Die Auseinandersetzungen bezogen sich auf die Hudeflächen (Flächen zur Viehhaltung), die sowohl von den Lagenser wie auch von den benachbarten Bauern für sich beansprucht wurden. Die Waddenhausener pfändeten z. B. einige Lagenser Kühe; dies konnten auch die zur Hude (zum Hüten des Viehs) geschickten Lagenser Schützen nicht verhindern.
Die Beispiele zeigen die Notwendigkeit dieser Schnatgänge, die nichts anderes als Grenzgänge waren, denn bei diesen Begehungen wurden die Befestigungen, die aus Hecken und Gräben um das Weichbild Lage bestanden, ihr korrekter Verlauf wie auch der Zustand der Hudeflächen kontrolliert. Die Schnatgänge sicherten somit die Lebensgrundlage der Lagenser Bürger, von denen die meisten mit und von der Landwirtschaft lebten.

Sechs Groschen Strafe
So musste im Jahre 1841 nach dem Grenzbezug der Bürgermeister Reuter sechs Groschen Strafe bezahlen, weil im Sandkamp eine nicht wehrbare Befriedigung an seinem Grundstück war. Diese Verhandlungen und Bestrafungen zeigen die Wichtigkeit der Schnatgänge. Damit wird auch verständlich, dass diese Begehungen regelmäßig immer in

schützenfestfreien Jahren stattfanden, wobei bedacht werden muss, dass die Schützenfeste zum Teil nur in sehr großen Abständen gefeiert wurden.
Nachdem am 24. Februar 1950 die Schützen in Lage sich zur Schützengilde der Stadt Lage zusammengeschlossen hatten, wurde im selben Jahr, da kein Schützenfest stattfand, der erste Schnatgang nach dem 2. Weltkrieg begangen. In einem Einladungsschreiben des damaligen Oberst Heinrich Siekmann an den Lagenser Oberpostmeis­ter Wissmann ist das Programm des damaligen Schnatgangs erhalten geblieben:

Umfangreiches Programm
„Samstag 24. Juni: 14.00 Uhr Abmarsch zur Grenzbegehung vom Rathaus aus; 17.00 Uhr Traditionelles Wippen der neuen Mitglieder auf der Burg; 21.30 Uhr Burgbeleuchtung und Brillantfeuerwerk.
Sonntag 25. Juni: 6.00 Uhr Reveille; 15.00 Uhr Abmarsch ab Eichenallee mit Musik zur Burg; 15.30 Uhr Kaffeekonzert im Garten der Burg; anschließend Tanz in den Sälen und Zelten, Kinderbelustigung.“
Also im Gegensatz zu heute ein sehr umfangreiches Programm, wobei sicherlich eine große Rolle gespielt hat, dass es die erste offizielle Veranstaltung der neuen Gilde nach dem 2. Weltkrieg war.
Die „Lippische Rundschau“ vom 26. Juni 1950 berichtet dann über den Schnatgang: „Der Weg führte über die Werrebrücke auf dem herrlichen Promenadenweg am Werre­ufer entlang, wobei der Stadtbaumeister Graf über die neue Werrebegradigung sprach. Die neuen Brunnenanlagen der Stadtwerke wurden genauso besichtigt wie der Neubau der Ehrentruper Grundschule und des Wehres an der Düvels Mühle. In der Gaststätte „Nachtigall“ wurde Halt gemacht um sich zu stärken und dann ging es durch den Lagenser Wald hinauf zur Burg.“
Es wurde damals noch kein Hof besucht, erst 1951 wurde dann während des Schnatgangs die Ehrenmitgliedschaft dem Besitzer des Hofes Böckhaus angetragen, die Besitzer der Höfe Ottenhausen und Windhof waren schon seit Protokollüberlieferung eng und mit einem Sonderstatus mit den Lagenser Schützen verbunden.

Fünf Höfe im Wechsel
In diesem Jahr (2022) wird der Windhof von den Schnatgängern besucht, nachdem vorher die westliche Lagenser Grenze gegen Waddenhausen und Iggenhausen kontrolliert wird. Die Schnatgangtradition zum Windhof begann 1968. In jenem Jahr waren die Schützen erstmalig auf dem Windhof zu Gast; damals, wie bis zuletzt im Jahr 2010, bei der Familie von Friedrich-Cordt Krietenstein (Oberst der Gilde 1998-2010).
Im Jahre 1970 führte der Marsch zum Hof Avenhaus und 1974 erhielt der Hofbesitzer Krietenstein, Hagen die Ehrenmitgliedschaft, so dass die Gilde seitdem immer im Wechsel die fünf Höfe Avenhaus (Heiden), Böckhaus (Hardissen), Windhof (Krietenstein/Windhof), Krietenstein (Hagen) und Ottenhausen (Ottenhausen/Müssen) anlässlich der Schnatgänge besucht.